Vor fast 100 Jahren: In Neuhof wurde 1919 der erste Gewerbeverein gegründet
Von Franz Friedel
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ging für Deutschland eine Welt unter. Das Kaiserreich brach zusammen. An eine Reorganisation war nicht mehr zu denken. Deutschland, den Verlierer des Ersten Weltkrieges, traf 1919 in Versailles der Bannstrahl der unerbittlichen Sieger. Englands und Frankreichs erklärtes Ziel: Das deutsche Reich ein für alle Mal als Machtfaktor auszuschalten.
So überstiegen letztlich die dem Besiegten aufoktroyierten Bedingungen des Versailler Vertrages das Maß dessen, was Deutschland überhaupt zu leisten im Stande war, auch und besonders wirtschaftlich gesehen. Bereits vor der Annahme der im Versailler Vertrag festgelegten Friedensbedingungen erstickte Deutschland in Not, Elend und – Hunger.
Dabei waren die furchtbaren “Steckrübenjahre” von 1917/18 mitnichten überstanden. Sie wurden jetzt zeitlich sogar ausgedehnt. In einem durch Revolution mit Aufständen, Generalstreiks und anderen schlimmen Kriegsfolgen arg gebeutelten Deutschland traf die existentielle Not – ausgenommen die Kriegsgewinner, die es auch gab – alle Gruppierungen der Gesellschaft. Die überharten Friedensbedingungen von 1919 potenzierten die Drangsal der ersten Nachkriegsmonate.
Selbstredend blieb das Fuldaer Land von der alles lähmenden Krise und deren Auswirkungen nicht verschont. Die “Fuldaer Zeitung” schrieb im Jahre 1918 in ihrer 52. Ausgabe dazu: “Die Lage überall in Deutschland, so auch bei uns, ist so bitterernst wie nie zuvor. Die Aussichten werden von Tag zu Tag trüber. Trauer herrscht in den Familien, der Hunger bedroht uns alle”. Speziell zur Lage der heimischen Handwerks hatte das nämliche Blatt vorher schon ausgeführt: “Viele Werkstätten stehen still, das Werkzeug rostet. Die Kunden haben sich verlaufen und sehr viele, die jetzt nach dem Krieg ihre Arbeit wieder aufnehmen wollen, wissen, dass sie weder Rohmaterial, noch taugliches Werkzeug, noch Arbeit, noch Kredit finden.”
Ja, die Umstände der Zeit hatten damals das Gewerbe in der Gesamtheit an den alleräußersten Rand des völligen Ruins gebracht. Auswege aus dem Dilemma zu finden, tat Not – auch in Neuhof.
Ferdinand Kohl, der Vater des ersten Neuhof Gewerbevereins
Einer derjenigen Handwerker, die Anno 1919 in Neuhof das Gebot der Stunde erkannten, notwendige Maßnahmen zur Situationsbewältigung in der Gemeinschaft anzugehen, war der angesehene Wagnermeister Ferdinand Kohl, der in der heutigen Sankt-Barbara-Straße eine eigene Wagner-Werkstatt betrieb. Gleichzeitig fungierte Kohl als ehrenamtilicher Bürgermeister der damals noch selbständigen Gemeinde Ellers.
Er war es, der zusammen mit einer Hand voll Gleichgesinnter die Initiative ergriff, um seine Vision umzusetzen, in Neuhof einen “Handwerks- und Gewerbeverein” zu gründen. “Zum Besten der Gemeinden im Amtsgerichtsbezirk Neuhof” und “im Interesse des in diesem Gebiet angesiedelten Gewerbes” sollte der bürgermeisterlichen, unternehmerisch motivierten Idee nach, dieser “zu errichtende” Verein arbeiten.
Im “Handwerksamt Fulda” fand Ferdinand Kohl für sein Vorhaben direkte Unterstützung. Das “Amt”, das zur damaligen Zeit seinen Verwaltungssitz am Fuldaer Steinweg 3 hatte, verstand sich als Interessenvertretung von Handwerk und Handel. Getragen wurde diese vereinsrechtlich eingetragene Institution von zehn fuldischen Innungen und dem bereits seit längerem erfolgreich agierenden Gewerbevereins Fulda.
Die Gründungsversammlung
Am 16. März 1919, “nachmittags 3 1/2 Uhr”, wie es in der Einladung hieß, war es so weit. Die durch das Handwerksamt einberufene “Handwerker-Versammlung” konnte über die Bühne gehen. Eingeladen waren alle “Handwerks- und Gewerbetreibende” aus dem Amtsgerichtsbezirk Neuhof.
Aus einem schriftlich fixierten Bericht eines Zeitzeugen geht hervor, dass an jenem Märztag, es war übrigens ein von der Wetterlage her wenig begünstigter Sonntag, die Zusammenkunft im Hornungschen Saale (der spätere Kinosaal der Hirschlichtspiele von Adam Werner/Peter Mahr, dann Disco “Big Charly”) “sehr gut besucht” gewesen sei. Ferner ist dem Aufsatz entnehmbar, dass der “Versammlungssaal schlecht beheizt und gering zweckentsprechend hergerichtet” worden war.
Diese sicherlich nicht bös gemeinte Rüge ob der Versäumnisse des ausrichtenden Gastwirts war zum Teil entschuldbar. Dass der Saal kalt bleiben musste, lag daran, dass in den Nachkriegsjahren Brennmaterial über den Handel kaum zu erhalten war. Der akute Kohlenmangel, einmal wegen fehlender Kontingente, zum anderen wegen Transportschwierigkeiten bei der Eisenbahn, konnte dem Wirt wohl nicht angelastet werden. Schon eher, dass die Überbleibsel der acht Tage vorher im Hornungschen Saalbau veranstalteten “Wiedersehen-Feier mit Tanz”, zu dem die “Heimkehrer-Krieger” eingeladen hatten, nicht beseitigt worden waren.
Bürgermeister Kohl gab eingangs der Zusammenkunft ein leidenschaftliches Plädoyer zugunsten einer Vereinsgründung ab. Als Leitfaden hatte er das Sprichwort “Einigkeit mach stark” gewählt. Diese thematisierte Volksweisheit zog sich in vielfachen Wiederholungen durch die gesamte Rede. Er vergaß auch keineswegs, um seinen Ausführungen Nachdruck zu verleihen, das Potential seiner bürgermeisterlichen Autorität in die zu leistende Überzeugungsarbeit zu legen.
Auch der Vorstandsvize des Handwerksamtes Fulda Sunkel, der in seinem Referat die gegebene wirtschaftliche Not aus dem Blickwinkel des Handwerks schilderte, appellierte eindringlich an die Neuhofer Geschäftsleite, sich “pro” Vereinsgründung zu entscheiden, Seine Ansprache gipfelte in der Feststellung: “Nur Einigkeit und fester Zusammenschluss können das Handwerk lebensfähig erhalten. (…) Handwerk und Handel sind viel zu wichtig und notwendig im Volksmassiv, als dass sie entbehrt werden können. Das Gewerbe muss erhalten bleiben …”.
Des Bürgermeisters und des Fuldaer Gastredners Worte müssen offensichtlich überzeugt haben, denn der einstimmige Beschluss der Versammlung lautete: “Für den Bezirk Neuhof wird die Errichtung eines Handwerker- und Gewerbevereins mit dem Sitz in Neuhof erfolgen. Der neue Verein wird dem Handwerksamt Fulda angeschlossen. Ein provisorischer Vorstand ist unverzüglich zu bilden”.
Weil es nun mal Wunsch der Versammlungsteilnehmer war, wurden auch sogleich die Vereinslenker gewählt, die bis zur nächsten Hauptversammlung den neuen Verein zu führen hatten. So sah sie aus, die erste Führungsmannschaft des ersten Handwerker- und Gewerbevereins in Neuhof: Emil Möller, Schreinermeister, Erster Vorsitzender. Stellvertreter wurde W. Jahn, Schneidermeister.
Es war Absicht der Gründungsteilnehmer, Verantwortung zu streuen. Deswegen kam es zur Berufung eines siebenköpfigen Gremiums, das auf Vorstandsebene später noch zu fixierende Detailaufgaben zu übernehmen hatte. Diesen Stabstellen, die des Proporzes wegen auch mit auswärtigen Persönlichkeiten besetzt wurden, gehörten an: F. Kress (Maurermeister), Carl Rothmann (Fotograf), Johann Ruppert (Schumachermeister), Pius Schweizer (Schreinermeister), K. Günther, L. Sauer, Niederkalbach und Damian Heurich, Rommerz.
Am Tage der Gewerbevereinsgründung trugen sich spontan 46 Händler und Handwerker aus Neuhof und Umgebung in die Mitgliederliste ein. So konnte sich der Initiator Ferdinand Kohl am Ende der Versammlung zufrieden zurücklehnen. Seine Vision hatte sich real erfüllt.